Auf zwei Rädern gen Stommeln – Eine mobilitätskritische Reportage

Autor*in: Antje
Lesezeit: ca. 10min

Ich bin wieder dabei. Ein Jahr habe ich ausgesetzt, brauchte ein wenig Abstand von der SoLaWi. Außerdem war ein Umzug auf die rechte Rheinseite geplant, und irgendwie wollte ich auch mal wieder wissen, wie es sich anfühlt, Gemüse im Supermarkt zu kaufen (vorab: nicht so doll… geht, aber warum sollte mensch das tun).

Ich fahre also heute zum ersten Mal von meiner Wohnung in Kalk zum Feld in Stommeln. Ich könnte den Weg nehmen, den Google mir als den kürzesten aufzeigt: über Deutz, Ehrenfeld und Bickendorf — kurz: über die Venloer Straße. Natürlich kenne ich diesen Weg. Erstens fahre ich seit einem Jahr täglich über die Hohenzollernbrücke und am Dom vorbei zum Büro in „Ihrefeld“ und kann dieser neuen Route tatsächlich eine Menge abgewinnen. Im Gegensatz zu meiner alten Strecke zur Arbeit, ab Sülz und über den Gürtel, ist sie für hiesige Verhältnisse ziemlich gut ausgebaut und außerdem abwechslungsreich. Sie beinhaltet das eine und andere architektonische Highlight, etwa meinen aktuellen Liebling, das Haus Wefers an der Komödienstraße. Jenseits der Äußeren Kanalstraße aber entpuppt sich der Radweg der Venloer sehr bald als Randspur einer sehr stark befahrenen B59. Der Spaßfaktor hält sich in Grenzen, besonders wenn im Sommer gegen den Hitzschlag angestrampelt wird, denn an eine Beschattung wurde nicht gedacht. Oder falls es sie gab, wurde sie zugunsten des hier angesiedelten Gewerbes entfernt, damit dieses mit ausreichend vorhandenen Parkplätzen werben kann.

Der andere Weg, den Google mir anzeigt, verläuft über Nippes, Pesch und Esch. Oder Esch und Pesch?. Ich kann schon nicht Riehl und Niehl auseinanderhalten — was ein lokal weit verbreiteter, kognitiver Defekt zu sein scheint. Im Büro und auf Parties ist es ein standardmäßiges Bekenntnis:

„Niehl und Riehl kann ich ja bis heute nicht auseinanderhalten.“

Nun, Erfahrung macht schlau. Ich fotografiere die Strecke vom Bildschirm ab. So habe ich den jeweiligen Abschnitt immer griffbereit und muss kein Navi einschalten. Meine Haltung zu Navis hat sich seit ihrem Aufkommen nicht geändert. Viele Vorteile werden ihnen nachgesagt, etwa dass sie Baustellen und Stauumfahrungsmöglichkeiten anzeigen. Ja gut. Aber ich find’s zumindest dort, wo es vermieden werden kann, ziemlich blöde, blind auf die Befehle einer Maschine zu hören, ohne eigene Orientierung im Raum. Außerdem habe ich alle meine Urlaubsreisen, sofern mit eigenem Auto unterwegs, mit Straßenkarten bewältigt, und einmal bin ich, nach nur kurzem Blick auf die Karte, mit Prag als Ziel gestartet. Immer der Sonne entgegen, sozusagen. Ich würde diese Methode nicht empfehlen, um es pünktlich zu einem Termin zu schaffen. Aber ihr könnt euch vielleicht vorstellen, was ich denke, wenn mich ein Mensch um die Koordinaten eines Ortes bittet.

Über einen Schleichweg geht’s zunächst am Kalkberg vorbei Richtung Stegerwald Siedlung. Dort ist die Auffahrt zur Zoobrücke, die mich bald in luftige Höhen befördert und mir Ausblicke nicht nur auf den Rhein eröffnet, sondern zum Beispiel auch auf das Mülheimer Otto-Langen-Quartier an der Deutz-Mülheimer Straße. Es ist im investorenfreundlichen Flächen-Ausverkauf der Stadt ein von Business Intelligence umkämpftes Gebiet. Die brachliegenden rechtsrheinischen Areale mit den maroden Gebäuden aus der Ära der Schwerindustrie sind heiß begehrt.

Am Ende der Brücke geht’s dann mit Schwung die steile Rampe runter. Als ich auf der Neusser Straße lande, habe ich schon wieder vergessen, dass ich den Abzweig zur Kempener Straße nicht verpassen möchte. Merke es aber dann doch noch rechtzeitig und biege links in die nächste Querstraße ein. Das Abenteuer beginnt. Leider habe ich die Straßen um den S-Bahnhof Geldernstraße-Parkgürtel nicht abfotografiert. Ich war hier zuletzt im November, als Teilnehmerin einer von Boris Sieverts organisierten „Städtereise“. Aber jetzt muss ich trotzdem erstmal absteigen und mich umschauen, denn quer vor mir verläuft das letzte ausgebaute Stück des Kölner Gürtels, hübsch eingebettet in eine tiefe, massive, mit Graffiti dekorierte Betonrinne. Über einem Bündel von Fahrspuren türmt sich links von mir der Bahnhof auf. Der Riegel muss einen sehr weiten Spagat machen, um die beiden „Ufer“ zu verbinden. Die Entstehung dieses irgendwie außerirdisch wirkenden Trumms aus den Siebziger Jahren wird auf der Seite des Stadtteilbüros Nippes recht sachlich wiedergegeben. Es kommt aber sonst nicht gut weg und wird sogar als Angstraum beschrieben. Zum Glück entdecke ich eine junge Frau mit einem Fahrrad auf einer Rampe und erkenne so den Fahrradweg, der mich nach oben führt und auf der anderen Seite wieder runter.

Parallel zum Gleiskörper folge ich der Longericher Straße bis zum TÜV. Hier macht sie einen kleinen Knick nach Nord-Ost und ist nach einem kurzen Stück abgeschnitten. Auf der anderen Seite der Gleise geht sie weiter, tatsächlich bis nach Longerich, das laut Geschichtsschreibung mehr als Tausend Jahre auf dem Buckel hat und, eingekeilt zwischen A1, A 57 und B9, um Atem ringt. Ich folge dem Bogen nach links, denn ich will nach Nord-Westen, und lande auf der Robert-Perthel-Straße. Es ist eine Ironie des Schicksals, dass ich als überzeugte Fahrradfahrerin oft in Gegenden gewohnt oder meine Freizeit verbracht habe, die nur über weitläufige Gebiete voller Autohäuser, Autowerkstätten, Autozuliefererbetriebe und Autoverleiher zu erreichen waren — die Tanken nicht zu vergessen. Womöglich habe ich nicht richtig aufgepasst, als ich mich zu einem Menschenleben auf Erden in „der Zeitspanne um das Jahr 2000 herum“ entschloss.

Wer, zur Hölle, war Robert-Perthel*? Ich werde langsam hungrig. Mein Müsli habe ich vorbereitet im Rucksack, aber leider ohne Apfel, denn Äpfel waren keine mehr im Haus. So habe ich die ganze Zeit schon Ausschau gehalten nach einer Möglichkeit, Obst zu kaufen. Und für den Fall, dass dies hier die letzte Möglichkeit ist, Währung gegen Nahrung einzutauschen, mache ich kurz vor einer Unterführung Stopp bei Aldi Süd Bickendorf und parke mein Fahrrad neben einem treu dreinblickenden, angeleinten Hundetier. Freundliche Menschen mit vollen Einkaufswagen lassen mich an der Kasse vor, damit ich mit meinen vier exakt 500 g wiegenden Bio-Äpfeln im Pappgebinde nach fünf Minuten schon wieder draußen bin.

Die Robert-Perthel-Straße wird zum Landweiler Weg. Dieser führt mich über den Militärring und weiter über die A1. Hinter dem Abzweig Unnaer Straße halte ich erneut an bzw. fahre nochmal kurz im Dreieck. Ja, ich muss an diesem Heimtierzentrum vorbei, das linker Hand liegt, und unter der A57 hindurch. Dort, wo der Pescher Weg in einen Straßenabschnitt übergeht, der „Longericher Straße“ heißt, fällt mir ein Kiosk auf, einfach weil sein Schild so nah an der Straße hängt: Marcels Kiosk (natürlich mal wieder falsch apostrophiert: Marcel’s Kiosk) wird mir später auf dem Rückweg als Erkennungszeichen und damit als Bestätigung dienen, dass ich mich auf dem richtigen Weg befinde. Ich habe mir gemerkt, dass ich in Pesch auf eine etwas größere Straße in Richtung Norden muss, um zum Escher See zu gelangen. Aber als ich an der Kreuzung vor einem merkwürdig alpenländisch anmutenden Wohn- und Geschäftshaus mit Holzfensterrahmen stehe, bin ich unsicher. Ejal. Ich nehme die Donatusstraße und komme nach intuitivem Linksschwenk, oh Wunder, an einem Sportplatz raus, der einem eingezäunten und eingegrünten Gelände vorgelagert ist.

So sehen doch Seenlandschaften aus, oder?

Hier ist ein Radweg, der zwischen den zwei (!) Escher Seen und der stark befahrenen Straße „Am Baggerfeld“ entlang führt. Der Name der Straße ist ein Hinweis auf die Entstehungsgeschichte der Seen, die genauso wenig wie die benachbarte „Baadenberger Senke“ und die umliegenden Stehgewässer natürlichen Ursprungs sind. Das ganze Gebiet hier könnte meinetwegen auch
„Strabag-Seenplatte“ oder so heißen, auch wenn es inzwischen zum großen Teil unter Naturschutz steht. „Am Baggerfeld“ erhielt den hier lebenden Vögeln, Fledermäusen, Amphibien und Insekten zuliebe keine Straßenbeleuchtung. Ob das den Tieren die Überquerung der Fahrbahn erleichtert?

Der Schotterparkplatz, den ich überquere, gehört jedenfalls zu einer kommerziellen Badeeinrichtung, momentan zum Glück noch ohne Besucher. Ich sehe zu, dass ich Land gewinne, denn vom Wasser sehe ich — nichts. Ich suche mir eine Sitzbank, um meine Bordküche auszupacken. Mit Blick in den blauen Himmel und einen großen Baum, den ich nicht einsortieren kann, mampfe ich mein Müsli.
Als Solawista gehörte ich noch nie zu denen, die pünktlich auf dem Feld erscheinen. Wenn ich ankam, musste ich immer erstmal frühstücken. Die Verspätung hielt sich jedoch immer noch irgendwie im Rahmen. Heute wird der Rahmen gesprengt. Aber, mei, ich musste vor meinem Start heute Morgen schließlich auch noch meine alten Feld-Sneaker suchen und, weil die Treter offenbar noch in einer Umzugskiste im Keller liegen, spontan ein altes Paar Wanderschuhe meiner Tochter umwidmen. Bewundernswert, wie andere es auch noch schaffen, für die Pausen auf dem Feld für alle zu kochen und zu backen.

Aber guter Wille zählt schließlich auch. Von meiner Bank aus habe ich schon etwa Dreiviertel der Strecke hinter mir. Trotzdem gebe ich mich nicht der Illusion hin, es bald geschafft zu haben. Diese Randgebiete der Städte mit ihren weiten, auf den Karten in freundlichem Grün ausgezeichneten Flächen sind tricky für die, die mit dem Fahrrad unterwegs sind. Der Mix aus mit großem Gerät bewirtschafteten Äckern, Brachland, Autobahnen und ihren Zubringern ist nicht nur langweilig. Schlimmer sind die raren Korrekturmöglichkeiten, wenn die eingeschlagene Richtung nicht stimmt. Selbst wenn ein kleiner Wirtschaftsweg querfeldein zu erkennen ist, kostet es oft einige Hundert Meter Umweg, ihn zu erreichen. Währenddessen zieht der motorisierte Individualverkehr ungerührt vorbei/ zeigt den Vogel/ bremst scharf/ beschleunigt zum Überholen erst mal so richtig. Wo weite Flur und grade Bahn zum Rasen einladen, sind Hindernisse doppelte Spielverderberei.

Insofern bin ich froh, dass es nach der Krawinkelsiedlung, in der ich mich verfranse, noch ein Weilchen relativ gemütlich auf holprigen Radwegen weitergeht: „Am Baggerfeld“ führt mich nach Esch, und schwupps, führt der Weg als Chorbuschstraße auch schon wieder heraus. Ich habe einen Bekannten, der aus Esch kommt. Als er mir das verriet, schwang so etwas wie liebevolle Verachtung mit. „Ääsch“. Ich kann’s verstehen. Besonders am Kreisel, wo ich vor die Wahl gestellt werde, entweder auf der Chorbuschstraße zu bleiben, um nach Sinnersdorf zu gelangen, oder nach Orr zu fahren. Orr. Das klingt nach was**. Ich heb’ mir das auf für später, und leicht bergauf geht’s Richtung Sinnersdorf, weiter entlang der Chorbuschstraße und über den zweiten und letzten Escher Kreisel hinweg.
Erwähnte ich schon, dass ich den Weg von meiner vorigen Wohnung in Sülz zum Feld recht gerne mochte? Der Charme der Strecke bestand, so wie ich jetzt wahrnehme, unter anderem auch darin, dass sie den Blick auf das Neurather Kraftwerk verbarg. Der lange grade Weg zwischen Esch und Sinnersdorf hingegen gibt nach links den Blick auf Abgasschwaden und dampfende Kühltürme in der Ferne frei. Aber auch dieses Teilstück hat einen passablen Radweg inklusive Baumbepflanzung, die momentan allerdings grade erst anfängt, ihre gelb-grünen Blätter zu entfalten. Rechts und kurz vor dem Sinnersdorfer Ortseingang hat sich ein Gartencenter breit gemacht. Ein paar braune Zicklein meckern in einer kleinen abgetrennten Ecke vor den Gewächshäusern. Und die große, leere Fläche hinter den Gewächshäusern ist mit einem schwarzen Material abgedeckt. Es sind aber nicht etwa zukünftige Parkplätze, sondern Flächen, auf denen später in Topfzucht sehr sehr viele Pflanzen wachsen und auf ihren Verkauf warten werden. Daher auch die fahrbaren Beregnungsanlagen, die hier stehen.

In Sinnersdorf wird’s dörflich eng und unübersichtlich, bis rechts ein Backsteinkirchturm mit Turmuhr über die Dächer ragt. Ein imposanter und komplexer Kirchenbau überrascht mich an der breiten und leeren Kreuzung, und auch die großzügig bemessenen, freien Flächen vor dem Gebäude sind eher ungewöhnlich. Mich erinnert die Szene an eine Straßenecke in einem äußeren Stadtteil von Utrecht. Ein Passant, den ich nach dem Weg nach Stommeln frage, weist gradeaus. Wobei der Weg kurz hinter der Kreuzung fast rechtwinklig nach Westen abknickt. „En de Kurv“ nennt sich das Lokal in der Kurve. Was wohl Feng Shui hierzu sagt?

Ich nähere mich einem weiteren Kreisel mit Radspur und wähle etwas verunsichert Stommeln als Abzweig, denn ich möchte ja nicht direkt nach Stommeln. Ich weiß, dass unser Feld etwa südlich bzw. direkt unterhalb der L93 liegt. So zeigt es auch das schwammige Foto auf meinem Handy an. Aber auf den Schildern erkenne ich keinen Hinweis auf die L93. Meine Verunsicherung wächst, als ich beim kurz darauf folgenden zweiten Kreisel (warum zwei so kurz hintereinander?) dieselbe Entscheidung erneut treffe, treffen muss. Aber die Richtung scheint zu stimmen, irgendwo hinter diesen Feldern, die da links unterhalb der Fahrbahn liegen, muss auch unser Feld sein. Ich muss es nur noch unbeschadet über die Fahrbahn schaffen.

Als ich am Feld ankomme, sind einige grade dabei, sich zu verabschieden. Drei Stunden habe ich jetzt insgesamt gebraucht. Ich kenne auch niemanden mehr, alles neue Gesichter, aber alle nett und super gut gelaunt. „Hier, bedien’ dich, wir haben die Gewächshäuser leer geräumt. Muss alles weg, pack ordentlich ein.“ Vor mir stehen reihenweise Behälter aufgetürmt, hauptsächlich mit Salatgemüsen wie Rucola, Asiasalat, Postelein. Auch lecker Rübstiel ist dabei, und etwas, das ich noch gar nicht kenne: Speisechrysantheme.

Plötzlich habe ich das Gefühl, das war der beste Wiedereinstieg aller Zeiten.
*Robert Perthel, geschäftstüchtiger Architekt und Stadtverordneter, der 1887 eine Bauunternehmung gründete
**Der Zauberer von Oz (Originaltitel: The Wizard of Oz), Filmmusical, USA 1939

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